Das beteiligte Publikum
oder: The People Formerly Known as the Audience
Was kommt nach der Pandemie? – Was war davor?
Es gibt kein Publikum mehr! Das mussten die Theater im Frühjahr 2020 schockiert feststellen. Und mit dieser Tatsache müssen sie seit Beginn der Corona-Pandemie umgehen. Das Zusammenkommen in großen Sälen oder kleinen Studios, das Diskutieren in Foyers, die geteilte Aufmerksamkeit einer Gruppe füreinander und für eine Performance – alles schon so lange nicht mehr möglich. Schnell fand das Theater Formate, um auf rein digitalen Wegen Begegnungen zu ermöglichen: Live-Streams mit Chatfunktion, Video-Chat-Inszenierungen, Messenger-Games, virtuelle Bühnenräume und Apps, die Bühne und Performance digital mobil machen. Weder diese Möglichkeiten medialer Liveness noch die digitalen Remote-Communities, in denen wir uns sozial über Wasser halten, machen den Verlust des öffentlichen Zusammenkommens wett. Er geht weit über das Theater und die Veranstaltungsbranche hinaus. Es wird eine historische Aufgabe, das Zusammensein in der Öffentlichkeit neu einzuüben. Deshalb soll es hier nicht um genuin pandemische, digitale Theaterformen gehen. Ich möchte über ein verändertes Zusammensein als Grundbedingung zeitgenössischer darstellender Künste nachdenken.
Ein digitales Publikum wird es auch nach der Pandemie geben, weil es es bereits vor der Pandemie gegeben hat. Mag sein, dass die Isolation der Pandemie es noch schwieriger gemacht hat, dieses Publikum zu ignorieren. Fakt ist, dass viele Theaterschaffende es schon lange fest im Blick hatten, auch weil sie selbst dazu gehören. Dieses Publikum kann und sollte als Ausgangspunkt für ein zukünftiges Theaterverständnis dienen (so wie es ohnehin eine gute Idee ist, das Theater vom Publikum her zu denken). Theater müssen nicht zwingend digitale Bühnen gründen. Vielmehr müssen die Orte, an denen Theater gemacht und erlebt wird, lebendige Orte innerhalb einer digitalisierten Welt sein. Wenn es im Folgenden um die Aktivität des Publikums an diesen Orten geht, dann ist die Rede von veränderten Narrativen, geteilten Räumen und Dramaturgien der gemeinsamen Verantwortung. Es geht um nicht weniger als neue Arten, zusammen zu kommen.
„Internet state of mind“
2019 nutzten acht von zehn Menschen ab 14 Jahren in Deutschland ein Smartphone. Damit gelangt die Digitalisierung ganz automatisch ins Theater. Ein „internet state of mind“ (Carson Chan) prägt zunehmend die Wahrnehmung der Menschen, die sich hier begegnen. Der Begriff der Digital Natives, den John Perry Barlow 1996 prägte, bringt diese Art in der Welt zu sein auf den Punkt. Piotr Czerski hat sie 2012 so beschrieben: “The Internet to us is not something external to reality but a part of it… We do not use the Internet, we live on the Internet and along it.” Natürlich gibt es noch Momente, in denen wir bewusst online gehen, aber zahlreiche Alltagstätigkeiten vom Musikhören bis zum Navigieren durch den Straßenverkehr basieren bereits darauf, dass wir online sind, ohne darüber nachzudenken. Freundschaften, Arbeit, Reisen – längst unvorstellbar ohne das Netz. Das Wissen um die eigene mediale Sichtbarkeit und die digitalen Spuren, die wir hinterlassen, ist tief in unser Handeln eingesickert. Diese digitalen Alltagspraktiken sind auch im Theater angekommen und bestimmen die Wahrnehmung und Gestaltung der Räume der Kunst. Ich spreche hier explizit nicht nur vom Kinder- und Jugendtheater. Wenn ich mit Kathrin Tiedemann und Irina-Simona Bârcă das „Theater der Digital Natives“ beschrieben habe, dann ist damit zwar die Perspektive auf eine jüngere Generation gemeint, die vielleicht in einigen Theatern noch mit Abwesenheit glänzt. Wir nehmen aber niemanden aus, weil wir davon ausgehen, dass der „internet state of mind“ längst weite Teile der Gesellschaft auf die eine oder andere Weise prägt und ein neues Generationenverhältnis anregt. Er taugt daher zu der Art von Auseinandersetzung und Verhandlung, die ich mir für ein gegenwärtiges Theater wünsche, das über Diskurse und Technologien Anteil an der digitalen Transformation der Gesellschaft hat.
Die Kunst des Miteinanders
Es gibt kein Publikum mehr – und keine Schauspieler*innen. An die Stelle dieser Trennung und Rollenverteilung tritt im Theater und in der bildenden Kunst seit einigen Jahrzehnten die Einladung zur Begegnung und das Teilen von Verantwortung. Florian Malzacher schreibt in seinem Buch „Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute“: „Partizipation in der Kunst kann dazu dienen, Modelle zu untersuchen oder zu entwickeln, mit denen Macht und Verantwortung anders geteilt werden können – und auf diese Weise auch für größere gesellschaftliche Zusammenhänge neue Formen der Teilhabe auszuloten. Es kann aber auch im Gegenteil gerade darum gehen, Partizipation bewusst zu problematisieren, mit dem Missbrauch von Macht zu spielen, um so durch Unbehagen Erkenntnisse zu ermöglichen oder zu erzwingen.“ Im Theater ging diese künstlerische Entwicklung Hand in Hand mit räumlichen Veränderungen: Vom Licht im Zuschauerraum während der Vorstellung über die Aufhebung der „vierten Wand“ und die Demokratisierung der Blicke, bis hin zu ortsspezifischen Arbeiten, die das Theater mit seinen Architekturen der Trennung ganz verlassen. Auch der Einsatz von technischen Medien hat in solchen partizipativen oder relationalen Theaterformen eine lange Tradition. Gruppen und Künstler*innen wie She She Pop, Rimini Protokoll, Lukas Matthaei, Schauplatz International u.v.m. haben schon früh die Möglichkeiten der Digitalisierung in ihren Arbeiten eingesetzt. Diese verkomplizieren nicht selten das räumliche Arrangement und reflektieren gleichzeitig digitale Diskurse der Beschleunigung, Globalisierung oder Kontrolle.
Eine Entwicklung, die das Theater in den letzten zehn Jahren stark beeinflusst hat, orientiert sich an Computerspielen. Hier zeigt sich besonders anschaulich die Verquickung von Stoffen, Technologien und Partizipation, die zu einer neuen Aktivität des Publikums führen. Zahlreiche Gruppen entwickeln Spielformate für kleine und größere Gruppen, für Theaterräume und ortsspezifische Performances. Die Spiele sind häufig so gestaltet, dass sie an digitale Spiele erinnern, weshalb Digital Natives sie oft intuitiv „bedienen“ können. Es handelt sich hier nicht um eine Theaterform, die sich explizit an Kinder und Jugendliche richtet, denn die Spiele, an denen sich Künstlergruppen wie machina eX, Anna Kpok oder Prinzip Gonzo orientieren sind eher in der Erinnerung einer älteren Generation der „Digital Natives“ abgespeichert. Dennoch stellen sie das Generationenverhältnis und die Verteilung von Wissen im Theater auf produktive Weise auf den Kopf.
Digitalisierung ist in den gelungenen Beispielen nicht nur Thema oder nur Technik der Performance. Sie bietet vielmehr einen ganzheitlichen Nährboden, auf dem sich Narration, Technologie und die Art der Begegnung auf neue Weise ergänzen, um drängenden gesellschaftlichen Fragen gerecht zu werden. Partizipative Elemente spielen dabei eine entscheidende Rolle. Nicht nur weil der Gebrauch digitaler Medien die Trennung zwischen Akteur*in und Rezipient*in aufhebt, wie es frühe Netz-Utopien versprachen. Gerade weil die aktuelle Entwicklung der digitalen Sphäre machtvolle Player und Plattformen begünstigt und die Handlungsmacht der Einzelnen einschränkt, kann Theater auch einen Raum bieten, um die Unterscheidung zwischen Pseudo-Beteiligung und echtem Involviertsein einzuüben.
Was tun wir, wenn wir nicht zuschauen?
Es gibt kein Publikum mehr. Aber die Menschen die das Theater lieben sind noch da. Das haben wir auch während der Pandemie immer wieder festgestellt: Es gibt sie noch die Menschen, die am Bildschirm Performances verfolgen, chatten und künstlerische Avatare in virtuellen Räumen steuern. Genauso wie es Menschen gibt, die sich mit einzelnen Künstler*innen auf Spaziergänge begeben oder sich Lockdown-konform, alleine auf Audiowalks begeben. Es sind vielleicht die gleichen Menschen, die sich schon vor der Pandemie darauf eingelassen haben, vor dem Ticketkauf nicht genau zu wissen, was der Abend bringt. Die bereit waren, sich mit uns in Stuhlkreise zu setzen, auf der Bühne nach Hinweisen für den Fortgang der Geschichte zu suchen oder sich gegenseitig zuzuhören, wenn eine Gruppenentscheidung zu treffen war. Es macht meiner Meinung nach wenig Sinn, darüber zu spekulieren, ob ihre Aufmerksamkeitsspanne geringer wird oder wie viele parallele Tabs sie auf ihrem Bildschirm geöffnet haben. Es macht dagegen großen Spaß, neue Beschreibungen für die Aktivität derjenigen zu suchen, die wir einmal als „Zuschauer*innen“ bezeichnet haben: Mitspieler*innen, User*innen, Avatar*innen, Multitasker*innen…
Der Journalist Jay Rosen sprach bereits 2006 von „People Formerly Known as the Audience“ und spielte dabei nicht nur auf eine veränderte Mediennutzung an, die Konsument*innen zu Produzent*innen werden lässt. Das Publikum wird in dieser Sicht als vernetztes gedacht, das immer schon aktiv, schon beteiligt ist. Es fragt sich nicht, ob es in eine Aktivität involviert ist, es registriert aber mit Sicherheit, auf welche Weise sein Engagement eingefordert wird. Wenn die „People Formerly Known as the Audience“ das Theater besuchen – sei es digital oder vor Ort –, ist es an uns, die Formen der Beteiligung künstlerisch anspruchsvoll zu gestalten. Es geht nicht um eine Beteiligung um der Beteiligung willen. Unser Publikum ist nie passiv gewesen und es hat einen feinen Sensor dafür, wie wir ihm begegnen und ob wir bereit sind, wirklich Verantwortung mit ihm zu teilen.
Öffentlichkeit zwischen Handlungsmacht und Manipulation
Partizipatives Theater während und nach der Pandemie zu verwirklichen, ist eine besondere Herausforderung. Es erfordert und begünstigt ja eine besondere Nähe und Verbindung zwischen den Beteiligten. „Ein Theater zieht nicht einfach um“, schreibt Ulrike Haß in Bezug auf den bevorstehenden Umzug des FFT Düsseldorf in ein neues Haus. Sie spielt damit auf das besondere Verhältnis zwischen Theater und Stadt an. Die Aussage ist natürlich übertragbar auf den Umzug eines digitalen, pandemischen Theaters „zurück“ in die verwaisten Innenstädte. Besonders interessant, um diesen „Umzug“ – oder nennen wir es Neuanfang? – zu gestalten, erscheinen mir wiederum spielerische Formate digital versierter Künstler*innen mit Blick für das Zeitgeschehen. So ist „PATROL“ von machina eX ein hybrides Theater-Game im Stadtraum, das jede Spielerin über das eigene Smartphone auf eine Mission schickt. Als Agent*innen einer Sicherheitsfirma überwachen wir den öffentlichen Raum und werden dabei, ähnlich den Kurier-Radlern von Lieferketten, immer wieder mit neuen Aufträgen versorgt und nach der Erledigung bewertet. Schnell entspinnt sich ein spannungsvolles Spiel aus fiktiver Story und realen Beobachtungen, Handlungsmacht und Manipulation. Im pandemie-sicheren Single-Player-Modus bringen sich die Beteiligten wieder öffentliche in Spiel. Sowohl die geforderte Aktivität als auch der hybride Charakter der Wahrnehmung changieren dabei zwischen Spaß und Unbehagen, Sichtbarkeit, Macht und Missbrauch. Hybrides, zukünftiges Theater im städtischen Raum – ganz ohne Publikum.
Veröffentlicht in Das Magazin von Kultur Management Network – Ausgabe Mai/Juni 2021