"I love you, but I've chosen Entdramatisierung"*

25 Jahre Postdramatisches Theater

Die Geburtstagsfeier Gespräche + Workshops Theater + Performance

1999 erschien Hans-Thies Lehmanns „Postdramatisches Theater“ – ein Titel der vielleicht noch wirkmächtiger war als das Buch selbst: Er gab den weltweiten neuen Strömungen in den performativen Künsten den Namen, unter dem sie sich seitdem versammeln. 25 Jahre später treffen sich prägende Theatermacher*innen aus dem deutschsprachigen Raum zu einer diskursiven Geburtstagsfeier: Wo steht das postdramatische Theater heute? Wie reagiert es auf gegenwärtige gesellschaftliche Strömungen? Und was kommt danach?

Bereits anlässlich des 20. Jahrestages von Lehmanns Buch rief die Kunststiftung NRW die Buch-Reihe „Postdramatisches Theater in Portraits“ im Alexander Verlag Berlin ins Leben, die sich der Entwicklung der neuen Theaterästhetik seit den 1990er Jahren widmet. Bis September werden zehn Bände erschienen sein. Auch der Veranstaltungsort von „I love you, but I’ve chosen Entdramatisierung*“, das FFT Düsseldorf, feiert im September 2024 seinen 25jähriges Bestehen.

* Rene Pollesch, 2016

Mit andcompany&co., Inke Arns, Claudia Bosse, deufert&plischke, Anan Fries, Monika Gintersdorfer, Gob Squad, Heiner Goebbels, Hofmann&Lindholm, Heinrich Horwitz, Hans-Werner Kroesinger, Şeyda Kurt, Florian Malzacher, Luise Meier, Boris Nikitin, Sibylle Peters (FUNDUS THEATER | Forschungstheater), Aenne Quiñones, Sahar Rahimi, Mithu Sanyal, Stephan Stock (Theater Hora), Studiengang Szenische Forschung (Ruhr Universität Bochum), Kathrin Tiedemann, Daniel Wetzel (Rimini Protokoll)

Programm

11 Uhr: BEGRÜSSUNG

11.15 Uhr: TERMINUS POST QUEM EVERYTHING
Keynote von Heiner Goebbels

Ganztägig: STÜCKE EINER SZENE
Installation von Smilla Ann, Anjali Bröcker, Ayla Buchholz, Lukas Jakob Huber, F*Kemmether, Johanna Sowka (Szenische Forschung, Ruhr Universität Bochum)

11.30 Uhr: ÄSTHETIK DES WIDERSTÄNDIGEN
Input von außen: Inke Arns // Gespräch: Anan Fries, Boris Nikitin, Nicola Nord (andcompany&co.), Thomas Plischke (deufert&plischke), Stephan Stock (Theater Hora) // Moderation: Aenne Quiñones

Postdramatisches Theater balanciert nicht nur das Verhältnis von Form und Inhalt immer wieder neu aus, es stellt auch hergebrachte Modelle von Autor*innenschaft in Frage. Hans-Thies Lehmann hat darauf beharrt, die Widerständigkeit des Theaters sei mehr im „Wie“ als im „Was“ zu suchen. Doch wie beeinflussen Produktion, Strukturen, Hierarchien die Ästhetik?

13 Uhr: MITTAGESSEN

13:30 – 18:30 Uhr: GHOST-DRAMATIC THEATRE: FOR THE ONES WE LOVE
Performance/Installation von Gob Squad

14.30 Uhr: LIEBE MACHT ARBEIT
Input von außen: Şeyda Kurt // Gespräch: Claudia Bosse, Monika Gintersdorfer, Hannah Hofmann (Hofmann & Lindholm), Luise Meier // Moderation: Kathrin Tiedemann

Im postdramatischen Theater hat sich auch ein anderes Bewusstsein dafür entwickelt, wie wir zusammen arbeiten – und leben – wollen: Selbstbestimmte und kollektive Arbeitsstrukturen prägen viele Gruppen, darüber hinaus wird immer mehr auch hinterfragt: Wer wird hier eigentlich von wem und wie repräsentiert? Und wer nicht?

im Anschluss: ZWISCHENDURCH JUBILIEREN
Ein kollektives Happening, organisiert von Daniel Wetzel (Rimini Protokoll, nach einem Konzept von Haug/Dross/Wetzel)

16 Uhr: PAUSE

16.30 Uhr: KUNST OHNE EINFLUSS?
Input von außen: Mithu Sanyal // Gespräch: Heinrich Horwitz, Hans-Werner Kroesinger, Sibylle Peters, Sahar Rahimi // Moderation: Florian Malzacher

Dass Kunst sich auch politisch positionieren kann und soll, ist unter vielen postdramatischen Theatermacher*innen längst Konsens. So sehr, dass nun wieder zunehmend gemahnt wird: Theater überschätzt sich, wenn es sich überall einmischen will – und es verliert sein Publikum, das nach Ablenkung vom Alltag verlangt. Aber stimmt das?

18 Uhr: PAUSE

18.30 Uhr: PORTRAIT AUS DESINTERESSE
In Memoriam Hans-Thies Lehmann und René Pollesch

René Pollesch über Hans-Thies Lehmann (Film von Greg Liakopoulos, 2023)
René Polleschs Portrait aus Desinteresse (Film, 2008)

19.30 Uhr: ABENDESSEN

20.30 Uhr: PRESENTATION “GHOST-DRAMATIC THEATRE: FOR THE ONES WE LOVE

21 Uhr: STOPPT DEN CASTORF! TANZT DEN ROBERT WILSON!
ihr habt die Songs geschickt. Daniel Wetzel legt sie auf

Von und mit

Inke Arns ist Direktorin des HMKV. Seit 1993 kuratiert und schreibt sie in den Bereichen Medienkunst und -theorie, Netzkulturen und Osteuropa und ist mehrfach mit Formen des postdramatischen Theaters in Berührung gekommen. Sie war früh Fan von Heiner Goebbels‘ Verkommenes Ufer, das sie in den 1980er Jahren unendlich oft auf Audio-Kassette hörte.

Claudia Bosse lebt in Wien und Berlin, ist Regisseurin, Choreografin, Künstlerin und leitet die transdisziplinäre Konstellation theatercombinat. Bosse versteht ihre raumgreifenden Choreografien, bei denen sie Mythen, Rituale und Texte mit Körpern, Objekten, Klängen und manchmal Chören verschränkt, als „Kunst einer temporären Gemeinschaft“ – auch mit nichtmenschlichen Wesen.

deufert&plischke haben in den 23 Jahren ihrer Zusammenarbeit immer wieder mit anderen zusammengearbeitet. Folgt man ihrer künstlerischen Entwicklung, so löst man sich Schritt für Schritt von der Theaterbühne, vom klassischen Ausstellungsraum des Museums, vom Urbanen, von der genialen Idee oder von der Hierarchie zwischen Künstler*in und Publikum.

Anan Fries hat in einer Zeit in Hildesheim studiert, als Theatermachen nur im Kollektiv denkbar war. They ist Gründungsmitglied von machina eX (damals 10 Kollektivmitglieder) und Henrike Iglesias (erst 4, dann 6 Mitglieder). Zurzeit interessiert sich Anan Fries für hybride Ästhetiken an der Schnittstelle von performativer und digitaler Kunst.

Monika Gintersdorfer gründete 2005 und co-leitet seitdem die deutsch-ivorische Gruppe Gintersdorfer/Klaßen, für die sie auch die Regie verantwortet. Im Jahr 2016 gründete sie zusammen mit Franck Edmond Yao die tanzstarke, transnationale Gruppe La Fleur und inszeniert die Tanz- und Theater-Stücke der Gruppe, u.a. „Trio for the beauty of it“ (2021), „Konami – der Fussballtanz“ (2024) und „Das Phantom der Operette“ (2024).

Gob Squads erstes internationales Gastspiel fand 1994 im Rahmen des studentischen Theaterfestivals Diskurs in Gießen statt, wo zwei der Mitglieder des Kollektivs studierten. Als sie die Gruppe gemeinsam gründeten, waren sie trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft alle Fans der Arbeiten von The Wooster Group und Forced Entertainment.

Heiner Goebbels hat zwar nie Theaterwissenschaft studiert, war aber 20 Jahre Professor in Gießen. Davor – als Komponist für Peter Palitzsch, Hans Neuenfels, Claus Peymann und Ruth Berghaus – machte er mit den Dramen eher zwiespältige Erfahrungen, konnte sich aber hinter vorgehaltener Hand darüber mit Heiner Müller gut verständigen.

Hannah Hofmann (Hofmann&Lindholm) begegnete Sven Lindholm erstmals in Gießen. Das & verbindet die beiden seit 2000. Nach einem Vortrag in Paris über die eigene Arbeit empfahl Hans-Thies Lehmann dem Label, die Interpretation in Zukunft anderen zu überlassen.

Heinrich Horwitz arbeitet in der freien Szene, im Stadttheater und in der Neuen Musik. Beim Studium Schauspielregie und Choreografie an der HfS Ernst Busch Berlin war die Hinwendung zur Choreografie der Wunsch nach Auflösung der starren Form vom Sprechtheater. Brechts episches Theater versteht Heinrich als postdramatischen Ansatz zur Arbeit an Zeit, Raum und Körper.

Nicola Nord/andcompany&Co. studierte Theaterwissenschaft bei Hans-Thies Lehmann und wollte danach auch eine Gruppe haben. Die erste Frage lautete: „andcompany mit a oder mit e?“ Das Kollektiv hat sich für „a“ entschieden: a wie anfangen. „Postdramatisches Theater“ hatten wir so verstanden, dass in jedem Ende ein Anfang steckt. Prompt war unser erstes Stück das letzte Stück, das im TAT (Theater im Turm) aufgeführt wurde.

Hans-Werner Kroesinger studierte in Gießen, arbeitete bei Heiner Müllers „Hamletmaschine“ in Ost.Berlin mit, erlebte wie schnell ein Staat verschwindet, zweifelte am Theater, entdeckte daraufhin das dokumentarische Theater für sich und macht das jetzt seit knapp 30 Jahren zusammen mit Regine Dura immer wieder aufs Neue. Es gibt viel zu tun.

Şeyda Kurt hat als Kolumnist*in für nachtkritik.de auf den Theaterbühnen des Landes nach Utopien der Liebe gesucht. Ist meist gescheitert. Privat ist es auch kompliziert. Sie mag es nicht, wenn im Theater gebrüllt wird. Passiert aber auch häufig.

Florian Malzacher wollte eigentlich Theaterregisseur werden, als er in Gießen landete und u.a. mit She She Pop, Showcase und den späteren Riminis studierte. Spätestens nachdem er dann auch noch Forced Entertainment gesehen hatte, wurde ihm klar, dass er die Arbeiten, die er wirklich liebte, nicht selbst machen könnte. Seither arbeitet er nah an Kunst und Künstler*innen, ist aber selbst keiner.

Luise Meier ist Ost-Berlinerin, Studienabbrecherin und agitiert gegen autoritäre Strukturen und die gegenwärtigen kapitalistischen und patriarchalen Verhältnisse. 2018 veröffentlichte sie „MRX-Maschine“. Ab 2019 ließen andcompany&Co Luise auch auf der Bühne agitieren, seit 2020 ist sie als KM Agitation und Propaganda im Rosa Kollektiv aktiv. Im August 2024 erschien ihr Near-Future-Fiction Roman „Hyphen“.

Boris Nikitin war 2001/2002 Regieassistent am Prater der Volksbühne und hat als Folge daraus sechs Jahre in Gießen verbracht. Nach Projekten in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen beschloss er 2007, nicht weiter im Kollektiv zu arbeiten. Neben seinem Coming out mit Anfang zwanzig war das die zweite wirkliche Entscheidung seines Lebens. Seither widmet er sich der leidenschaftlichen Befragung des Dokumentarischen.

Sibylle Peters ist aus der Geisteswissenschaft ins Kindertheater davongelaufen und hat dort das Forschungstheater entwickelt, das sich gerade mit Hühnern und Schweinen beschäftigt. Lecture Performances waren Sibylles erste postdramatische Liebe. Mit der geheimagentur macht sie Kunst auf dem Wasser und auf Kampnagel probt sie gerade ein Theater der Berührung.

Nachdem Aenne Quiñones kurz nach Mauerfall in der noch existierenden Ostberliner Akademie der Künste die BAK-Truppen und Heiner Müller zusammengebracht hatte, traf sie Mitte der 90er Jahre auf Stefan Pucher, Gob Squad, She She Pop, Forced Entertaiment, René Pollesch und mittlerweile auch viele andere, um mit ihnen das auf die Bühne zu bringen, was mit uns zu tun hat.

Sahar Rahimi, Theatermacherin und Mitbegründerin von Monster Truck, muss immer noch oft über diesen Satz nachdenken: Die Mysterien finden im Steinbruch statt. Eingeweihte wissen auf welcher mittlerweile abgerissenen Steinwand dieser Satz stand. Alle anderen dürfen fragen oder raten. Auf der Konferenz gibt es einen Stand, an dem man sich diesen Satz tätowieren lassen kann.

Mithu Sanyal ist Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin. Sie ist dem FFT eng verbunden. Ihr erster Roman Identitti wurde von mehreren Theatern adaptiert. Ihr zweiter Roman wird 2025 vom Schauspielhaus Düsseldorf in Kooperation mit den Ruhrfestspielen aufgeführt. Ihre Vorbilder sind Heiner Müller und Agatha Christie.

Stephan Stock/Theater Hora hat Schauspiel in Bern und Zürich studiert, sich aber nach prägenden Erlebnissen in Aufführungen von Nature Theater of Oklahoma, Boris Nikitin und Beatrice Fleischlin und einem heimlichen Nebenstudium an der Universität Hildesheim, wo er auch die Gruppe vorschlag:hammer mitbegründete, schnell der sogenannten freien Szene verschrieben.

Der 2012 an der Ruhr-Universität gegründete Masterstudiengang Szenische Forschung an der Ruhr-Uni Bochum fördert junge Künstler*innen auf ihrem Weg in die Professionalität. Gepflegt werden Gemeinsamkeiten mit der Gießener ATW und mit Ausprägungen des Artistic Research. Donna Haraways Vorliebe für Verfahrensweisen mit den Initialen S und F spielte bei der Namensfindung des Bochumer Studiengangs keine Rolle…

Kathrin Tiedemann faszinierte das „Postdramatische“ in den Stücken von Elfriede Jelinek, bevor es den Begriff gab. Fast hätte sie bei Hans Thies Lehmann promoviert, aber dann lernte sie die Wooster Group und baktruppen kennen, las die Tagebücher von Andy Warhol und gründete wenig später zusammen mit Aenne Quinones und Carena Schlewitt „reich & berühmt“.

Daniel Wetzel von Rimini Protokoll war 10 Jahre in Gießen eingeschrieben und Fan der frühen Stücke von She She Pop, Batterie Kongress, Michael Jackson Cover Band und Gob Squad. Eine Gastprofessur von Heiner Goebbels initiierte den internationalen Zyklus von 24 Arbeiten unter dem Label Haug/Dross/Wetzel: UNGUNSTRAUM „Alles zu seiner Zeit“ (1995-1997).

Credits

Eine Veranstaltung des FFT Düsseldorf in Zusammenarbeit mit dem Alexander Verlag Berlin. Gefördert durch die Kunststiftung NRW.

Kuratiert von Florian Malzacher & Kathrin Tiedemann.